„Schätze auf Papier“ lassen Szenen aus der Vergangenheit lebendig werden

Üppige Stuckverzierungen, florale Ornamentik, weiß getünchte Wände und über allem ein Kuppelmotiv, das aussieht wie eine Tortenbodenspitze – der Blick in den barocken Aachener Dom wirkt eigenartig fremd und doch vertraut. Gleich mehrere Motive in der aktuellen Ausstellung der Domschatzkammer laden dazu ein, sich auf eine Zeitreise ins 18. Jahrhundert zu begeben, als der karolingische Kernbau im Stil der Zeit ausstuckiert wurde.
Doch der barocke Dom ist bei Weitem nicht die einzige überraschende Entdeckung, die die „Schätze auf Papier“ bereithalten. Die etwa 50 bis dato mehrheitlich unveröffentlichten Blätter stammen aus der Graphischen Sammlung der Schatzkammer. Mit etwas Zeit und bei genauem Hinsehen tauchen Szenen aus längst vergangenen Zeiten auf. So ist auf einem Holzstich von 1881 die fröhliche Ansammlung von Gläubigen während einer Heiligtumsfahrt zu sehen. In der Mitte hält ein Polizist eine Pilgergruppe auf; rechts bietet ein Verkäufer Souvenirs an. Interessant ist der Hintergrund: Neben dem „Grashaus“, dem ältesten Rathaus der Stadt, sind zwei heute nicht mehr existierende Gebäude zu erkennen: das „Grientzenhaus“ und „Zur Marken“.
Auch eine Nachzeichnung des berühmtes Blattes von Albrecht Dürer wird präsentiert: Die Nordansicht des Doms im Jahr 1520. Neben der spätmittelalterlichen Bebauung ist darauf die Mauer der Immunität (Stiftsfreiheit) zu erkennen, die seinerzeit das Domareal abgrenzte.

Das Blatt ist eine Nachzeichnung der berühmten Ansicht Albrecht Dürers von 1520. Auf dem Hof zwischen Marienkirche/Dom und Rathaus (heute Katschhof) stehen noch spätmittelalterliche Gebäude. Vor den Gebäuden verläuft die nördliche Mauer der Immunität, d.h. der Stiftsfreiheit des Marienstifts (als eigenem Rechtsbezirk).
Die Gebäude auf der rechten Seite sind heute durch den Kreuzganz und das Städtische Museum (vorne) ersetzt.
Ein farbiges Aquarell von 1916 offenbart, dass die Einrichtung der Chorhalle verändert wurde: Auf der linken Seite stehen ein heute nicht mehr vorhandener Altar mit Tabernakel sowie ein prächtiger Bischofsstuhl mit Baldachin. Comicartige Züge hat ein Holzstich aus dem 19. Jahrhundert, auf dem Karl der Große Kindern Champagner einschenkt. Das spöttische Bild bezieht sich auf ein in Frankreich und Belgien heute noch gefeiertes Schulfest am 28. Januar, dem Todestag des fränkischen Herrschers.
Stichwortsuche in digitaler Bestandsliste
Gefragt nach seinem Lieblingsbild muss Kurator Dieter Detiège passen. Er kann jeder Graphik etwas abgewinnen, Geschichten dazu erzählen, sie historisch einordnen oder auf Besonderheiten hinweisen. Sein enormes Wissen ist beeindruckend. Als Historiker und Kunsthistoriker war er bereits umfassend „vorgebildet“, als er 2014 vom damaligen Dompropst Helmut Poqué ins Vorbereitungsteam der Heiligtumsfahrt berufen wurde. Sein Beitrag bestand in der Konzeption und Zusammentragung der Ausstellung „Karl der Große – wie er (gewiss nicht) aussah“ mit rund 50 Graphiken, die – zu diesem Zeitpunkt noch ungeordnet – auf dem Dachboden des Kreuzgangs aufbewahrt wurden. Der Folgeauftrag ließ nicht lange auf sich warten: Dr. Georg Minkenberg, der 2016 verstorbene Leiter der Domschatzkammer, bat Detiège, die Graphiken halbtags zu sichten und darüber hinaus die Präsenzbibliothek mit heute ca. 250 laufenden Regalmetern auszubauen und zu betreuen. An dieser Aufgabe fand Dieter Detiège so großen Gefallen, dass er sie nach seinem Eintritt in den Ruhestand fortsetzte. Bis heute kommt er an ein bis zwei Tagen pro Woche in „sein“ Dachbodenzimmer mit dicken Holzbalken, gerahmten Bildern und „frommen Utensilien“ bis in den letzten Winkel.

Otto III. im Grabgewölbe Karls des Großen, 1863
Die getreue Wiedergabe des Originalgemäldes von Wilhelm von Kaulbach (1805-1874) in Nürnberg zeigt die legendenhaft überhöhte Öffnung des Grabes Karls des GRoßen durch Kaiser Otto III. Im Jahr 1000. Karl sitzt mit Reichsschwert und Krönungsevangeliar auf dem Thron, der wiederum auf dem Proserpinasarkophag steht. Das Motiv der Sitzbestattung stammt aus der Antike.
Hier oben hat der Historiker den Bestand in den vergangenen Jahren in aller Ruhe nach wissenschaftlichen Kriterien sortiert, inventarisiert und kunsthistorisch eingeordnet. In einer von ihm angelegten digitalen Bestandsliste lassen sich per Stichwortsuche Motive finden. „Die Sammlung besteht aus etwa 1000 Zeichnungen, Aquarellen, Kupferstichen, Holz- und Stahlstichen sowie Lithographien“, berichtet der 71-Jährige. Die ältesten Blätter gehen auf ein halbes Jahrtausend zurück. Zu ihnen gehören eine Kreuzigungsszene als farbige Malerei auf Pergament und vier Blätter aus der „Weltchronik von Hermann Schedel“ (1493). Frühe Drucke, Plakate, Landkarten, Pläne und Zeichnungen sind für Dieter Detiège „wahre Schätze auf Papier“, die teilweise wichtige Informationen zu früheren baulichen Zuständen des Doms oder anderer bekannter Gebäude aus Aachen liefern. Neben der Grundsteinlegung der RWTH findet sich zum Beispiel eine ca. 150 Jahre alte Außenansicht der Burtscheider Abteikirche im Bestand. Gelagert werden die Blätter lichtgeschützt in extra breiten Schubladen. Für die Dauer der Ausstellung, die bis zum 10. Juni zu sehen ist, wandern sie nun vorübergehend ins Licht der Öffentlichkeit.
Bei der Auswahl und Zusammenstellung der Präsentation erhielt Detiège Unterstützung von Kunsthistorikerin Katrin Heitmann und Dr. Birgitta Falk, der Leiterin der Domschatzkammer. „Das ist für uns eine ideale Gelegenheit, um zeigen, dass der Domschatz nicht nur aus goldglänzenden Schätzen besteht“, schmunzelt sie. „Vielmehr ist hier in den vergangenen Jahren eine ganz neue Abteilung entstanden. Und die ist so umfangreich, dass wir daraus noch zahlreiche weitere Ausstellungen machen können!“